Das Trauma Stuttgart 21

Die Bewegung gegen Stuttgart 21 war einer meiner großartigsten Erfahrungen. Ich bin stolz, immer noch Teil dieser Bewegung zu sein. In Stuttgart passierte Ungeahntes. Plötzlich war fast die ganze Stadt auf der Straße. Ein solches Engagement von Bürger*innen hatte die Landeshauptstadt vorher noch nie erlebt. Stuttgart wurde im Sommer 2010 zum Symbol für eine selbstbewusste Bürger*innenschaft. Seit diesem Zeitpunkt wird in der Republik kein Großprojekt mehr gestartet ohne Bürger*innenbeteiligung. Auch wenn die S21-Bewegung eine der größten und hartnäckigsten Bewegungen der Republik ist, wurde die Volksabstimmung das große Trauma der Bewegung. Danach war der Widerstand nie wieder wie zuvor.

Für mich war es wichtig, auch aus der Niederlage zu lernen. In meiner Analyse stellt sich die Niederlage dieser Bewegung, die bis heute in all ihrer Kritik, mit all ihren Forderungen Recht behalten hat, als Dreiklang dar. Da ist zunächst einmal die Versachlichung durch den Faktencheck. Die Bewegung wurde reduziert auf ihre Stellvertreter*innen. Die Aktivist*innen hatten nur noch die Rolle der Zuschauer*innen am Fernsehbildschirm inne. Nach der Schlichtung kam dann die Landtagswahl. Aus den Bewegungsvertreter*innen wurden Parteivertreter*innen. Der Sieg der Grünen machte aus den Bewegungsvertreter*innen freiwillige Zuschauer*innen, die auf die Macht der Gewählten hofften. Schließlich kam die Volksabstimmung. Die Kämpfer*innen mussten wieder auf die Straße. Aber die Energie gegen „die da oben“ war nicht mehr da. Wir kamen aus der Zuschauer*innenrolle nicht mehr raus.

Wie aus einem Faktencheck eine Schlichtung wurde

Als in Stuttgart im Herbst 2010 nach dem „Schwarzen Donnerstag“, dem brutalen Polizeieinsatz im Schlossgarten, über 100.000 Menschen auf die Straße gingen, musste die Politik handeln. Zu groß war die Gefahr, dass kurz vor der Landtagswahl Anfang 2011 die Stimmung im Ländle kippen könnte. Immerhin hatte die CDU dieses Land 60 Jahre lang stolz regiert. Der Konflikt wurde weg von der Emotion auf der Straße durch den Faktencheck mit Heiner Geißler auf die Fernsehschirme verlagert. Die Argumentation wurde vermeintlich versachlicht. Doch aus einem Faktencheck wurde am Ende eine Schlichtung. Ich erinnere mich noch genau, wie oft ich vor Kameras betonte, dass es sich hier um einen Faktencheck handle, dass hier nicht entschieden würde, dass es nur darum gehe, dass alle Argumente auf den Tisch kämen. Trotzdem standen wir am Ende machtlos daneben, als Heiner Geißler seinen Schlichterspruch zum Weiterbau von S21 verkündete. Es war schon so, dass ich mich von Heiner Geißler hinters Licht geführt fühlte. Er hat im Vorfeld nie offen und ehrlich gesagt, dass er einen Schlichterspruch will. Wir wollten ihn darauf festlegen, dass es keinen gibt. Ich weiß bis heute nicht, warum wir das nicht bei Abbruch des ganzen Verfahrens einfach verbindlich durchgesetzt haben.

Und dann am letzten Tag, nachdem alle Seiten ihre Plädoyers gehalten hatten, unterbrach er die Sitzung und konfrontierte uns mit seiner Aussage: „Ich werde einen Schlichterspruch machen und den Weiterbau von S21 empfehlen. Ihr habt noch eine Stunde Zeit, Themen hineinzuverhandeln. Aber denkt daran, die Menschen warten alle an den Fernsehbildschirmen.“ Das war das Endergebnis einer raffinierten Machtdemonstration. Unsere Rolle als starke Fundamentalopposition gegen Stuttgart 21 wurde jetzt eingedampft auf die Möglichkeit, auf die Schnelle noch Auflagen für das Projekt zu formulieren. Damit war ich als Mitglied der Schlichtung in einer zwickmühlenartigen Lage. Nutze ich das Angebot, noch Bedingungen in den Schlichterspruch hineinzuformulieren, oder lehne ich es ab?

Die Mehrheit von uns, an der Spitze Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, wollte Bedingungen durchsetzen, die von der Gegenseite nicht eingehalten werden können. Auf diese Weise sollte das Projekt gestoppt werden. Dummerweise kam dann so ein Quatsch wie die 49 Züge raus, die der Bahnhof pro Stunde abfertigen sollte. Das müsse erst einmal in einem Stresstest nachgewiesen werden. Natürlich hätte die Bahn AG unter realen Bedingungen einen solchen Nachweis nie erbringen können. Heute wissen wir, dass S21 auf 32 Züge in der Spitzenstunde ausgelegt ist. Aber damals hätten wir wissen müssen, dass die Bahn AG und die Tunnelparteien bei der Leistung natürlich genauso tricksen würden, wie sie es auch bei den Kosten getan hatten.

Mir war danach klar, dass es so nicht geht. Gangolf Stocker und ich waren gegen Geißlers Schlichterspruch. Aus der Forderung nach einem anderen Verkehrskonzept wurde dann die Entscheidung für S21 Plus mit der Haltung: Besser wie nix. Ich habe damals am Abend noch in die Kameras gesagt: „Das geht so nicht!“ Ich habe öffentlich Widerstand geleistet. Meine Haltung war: alle Fakten auf den Tisch. In dieser Schlichtung entscheidet niemand. Aber meine Kritik ging in der Sensation unter: „Endlich Durchbruch in Stuttgart. Stuttgart 21 wird weitergebaut“.

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